Bild: Nikolaus – Tai Chi Seminar 2014

Nikolaus – Tai Chi Seminar 2014

mit Dietmar Stubenbaum am 6. Dezember 2014 in Nürnberg
 

Wir – mein Mann und ich – haben beschlossen, beweglich zu bleiben. Oder sollten wir ehrlicher sagen, beweglich zu werden?! Am Nikolaustag, dem Tag des Schutzpatrons der Schüler und Studenten, begeben wir uns selbst in die Schülerrolle,  um in den Räumen des Instituts für Bewegungskunst in Nürnberg den Worten des beeindruckenden Tai Chi Lehrers Dietmar Stubenbaum nicht nur zu lauschen, sondern sie begierig in unsere Körpersprache zu Leben zu erwecken. Wie der Institutsname bereits verrät: hier ist nichts profanes körperliches Tun. Kein Stretching, kein Dehnen, kein sporteln, kein bloßes Training mit achtlos dahin geworfenen Bewegungen, die losgelöst von Geist und Seele ausgeführt werden. Nein – wir reden von Kunst. Zur Erinnerung: Kunst bezeichnet im weitesten Sinne jene entwickelte Tätigkeit des Menschen, die auf Wissen, Übung, Vorstellung, Wahrnehmung und Intuition gegründet ist.

Wissen – Dietmar legt in seinen Lehreinheiten viel Wert darauf, uns Hintergründe zu den einzelnen Bewegungsabläufen zu lehren. „Es ist wichtig, dass Ihr beim Üben wisst, in welche Richtung Ihr übt. Ihr müsst die Theorie kennen. Sonst nivelliert Ihr Euch beim Üben immer weiter nach unten und es besteht die Gefahr, dass Ihr zehn Jahre übt, eine tolle Choreographie hinbekommt, aber faktisch kein bisschen beweglich geworden seid.“ Uuups, bloße Performance und Choreographie für das Auge – nein, das ist nicht unser Ziel. Und á propos zehn Jahre üben:

Ohne Übung geht es natürlich nicht; wer seine Gelenke in die Beweglichkeit erziehen möchte, muss üben, üben, üben. Je regelmäßiger und konsequenter, je beharrlicher, je genauer und aufmerksamer – desto feiner das Resultat. Und das verspricht – wenn nicht unvorhergesehene Schicksalsschläge dazwischen kommen – hohe Beweglichkeit bis ins Alter. Ach ja, wirkliches Üben ist anstrengend und kann schon mal bedeuten, dass körperliche Grenzen nur in kleinen Schritten erweitert werden. Tiefe Entspannungs- und Lösezustände im Körper zu erreichen, bedarf bisweilen der Anstrengung. Das scheint zunächst, ist aber nicht paradox. Mehr Freiheitsgrade in der Beweglichkeit erlangen, nennt Dietmar das auch.

Körperliche Grenzen werden allerdings nur dann tatsächlich erweitert, wenn der Geist dabei ist – hier kommt unsere Vorstellung ins Spiel. Den Kreis der Hände mit unserem inneren Auge mit zu begleiten oder die Übertragung des Impuls aus dem Bein durch den ganzen Körper bis in die Fingerspitzen vorzustellen, hilft, die Bewegungsabläufe geschmeidig und rund zu machen. Unsere Vorstellung als nächstes als Begrenzer des Körpers zu erkennen, ist ein weiterer Aspekt des Zusammenspiels von Körper und Geist, den wir heute kennenlernen durften. „Ist der Schmerz zu stark, ist Dein Geist zu schwach“, mag ein Satz sein, der aus dem Zusammenhang gerissen, an die Werbung für das Pfefferminzbonbon erinnert oder vielleicht auch einfach nur sehr martialisch klingt. Tai Chi – ein Kampfsport für harte Männer? Nein, so ist das nicht gemeint. Ich nehme mit: die Grenzen, die mir der Körper durch Schmerz signalisiert sind manchmal einfach nur in meinem Hirn verankert. Bei der Übung den Körper im Lot Richtung Erde hinab zu lassen, um mit den Fußflächen schließlich den Boden zu berühren, aufrecht hockend, ohne dass der Po Ausgleichsbewegungen nach hinten macht oder der Oberkörper nach vorne kippt , zieht es in den Schienbeinen. Wenn ich weiß, dass es die Vorstellung ist, die mich begrenzt, die mir den Lösezustand aktuell nicht ermöglicht, kann ich versuchen, diese zu verändern; das braucht Zeit und – wie oben schon erwähnt – auch Übung…

Das bewusste Wahrnehmen und Empfinden dessen, was ist und was gerade abläuft, unterstützt ebenso unser Bemühen des Lösens oder der „Rundwerdung“ im körperlichen Ausdruck und vielleicht auch im übertragenen Sinne, verstehe ich heute.

Wir sind es meistens gar nicht gewohnt Veränderungsprozesse mit unserer Wahrnehmung intensiv zu begleiten. Es ist ein langsamer und mühsamer Weg, der sich von purer Technik (gegen die nichts einzuwenden ist) und alleiniger äußerer Form unterscheidet.

Es sei bemerkt, dass wir heute hören, dass die Mühsal eines Tages sich in Reichtum, in Bewegungsreichtum wandeln soll. Die Erschöpfung am Ende eines solchen Ganztagestrainings ist – so kann ich berichten – dann auch keine reine körperliche, sondern eine, die den gesamten Menschen ergreift und in die Entspannung und Fülle führt. Resilienz zu sein heißt auf der Aktionsebene möglichst viele Handlungsoptionen zu haben. Nichts anderes fördern wir hier an diesem Übungstag, finde ich: beweglicher zu sein, heißt sich in diese oder jene Richtung wenden und bewegen zu kennen und gerade deshalb – gleichzeitig – in jedem Augenblick im eigenen Gleichgewicht zu ruhen.

Zuletzt: „Der Zufall trifft nur einen vorbereiteten Geist“, sagte Louis Pasteur, der, so unpassend zu unserem heutigen Thema, am Ende seines Lebens bewegungslos im Rollstuhl saß. Trotzdem greife ich auf sein kristallines Zitat an dieser Stelle zurück, weil es so schön den Kreis schließt zur Intuition, die ja weiter oben im Reigen der kunstbildenden Faktoren aufgeführt wurde. Hier lernen wir sehr konkret, was Intuition ist und wie man sich ihr nähern kann: nicht durch Hoffen und Horchen, dass sie sich der Bauchmitte unvermittelt mitteilt, sondern durch eine Verknüpfung von Wissen, Erfahrungslernen, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, die sie dann als größeres Ganzes, hier als Bewegungsgestalt, in den Raum stellt. Tai Chi kann das Ablaufen einer Form sein, es kann aber auch Bewegungskunst sein, wenn wir es dazu in jedem Moment des Ausführens einer Bewegung machen. Das nehme ich noch als heutiges Resumée mit.

Jetzt am Nikolaus-Abend. Es war intensiv, es war lehrreich, es hat Spaß gemacht, es war anstrengend. Und: wir sind beschenkt worden wie die Kinder. Danke, Jens, für die Organisation des Tages und das Bereitstellen des Erfahrungsraumes. Danke, Dietmar, für die genauen Erklärungen, die klaren Korrekturen unserer Haltungen, das geduldige Vormachen der Bewegungen, für das Vermitteln des Gefühls, wie faszinierend es sein muss, sich wie eine Katze sanft gleitend innerhalb der eigenen körperlichen Spielräume zu bewegen… und ach ja, danke für den morgigen Muskelkater, der uns daran erinnern wird, wie schön es ist, überhaupt in Bewegung zu sein.

/ C. Hildering




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