Kleiner Rahmen – Großer Rahmen

Seit der Gründung der VR China gibt es viele Publikationen über das Chen Taijiquan. Darin fällt auf das ab ca. 2005 plötzlich die Begriffe Kleiner Rahmen – Großer Rahmen auftauchen. 2007 fragte ich in den Parks von Shanghai die lokalen Chen Taijiquan Lehrer. Ich wollte wissen wo die Vertreter des „Kleinen Rahmen“ zu finden sind. Alle hatten noch nie etwas darüber gehört und dachten sich „Was für komische Sachen fragt den dieser Ausländer?“. Die Buch Autoren legen also von nun an Wert darauf Unterschiede anzudeuten und sich mit einer dieser Kategorien zu Verbinden. Allerdings beschreibt keiner etwas Konkretes darüber worin diese Unterschiede bestehen. Das einzige was gesagt wird ist:

  1. Der „Großer Rahmen“ – 大架 Dajia besteht nicht nur aus großen, sondern auch aus kleinen Kreisförmigen Bewegungen.
  2. Und der „Kleiner Rahmen“ – 小架 Xiaojia besteht nicht nur aus kleinen, sondern auch aus großen Kreisförmigen Bewegungen.

Diese Aussagen stammen von Autoren oder Lehrern die selbst Chen Taijiquan praktizieren oder aus dem Chen-Klan stammen.


Begriffe die nicht aus dem Chen-Klan selbst stammen

Der Grund dafür liegt darin, dass diese Begriffe nicht aus dem Chen-Klan selbst stammen. Sie wurden ihnen von außen auferlegt. In der Literatur aus dem Chen-Klan bis 1935 gibt es keine Begriffe wie „Großer Rahmen“ und „Kleiner Rahmen“. Das trifft ebenso auf Bezeichnungen wie „Alter Rahmen“ und „Neuer Rahmen“ zu. In den Büchern von Chen Xin, bei Chen Zhaopi oder Chen Ziming gibt es in den Original-Ausgaben (Achtung neue Reprints zählen nicht dazu) kein dieser Namen. Im Chen-Klan waren sie also unbekannt.

Somit können wir sagen das diese Begriffe im Zeitraum nach 1935 entstanden sind. Der flächendeckende Gebrauch setzte sich in China bis ca. 2005 durch. Es scheint kurios das plötzlich die Autoren aus dem Chen-Klan selbst beginnen beide Rahmen zu benutzen um sich einer der beiden Kategorien zugehörig zu machen.


Spuren des Feld-Forscher Tang Hao

In der Schrift „Untersuchungen zum Taijiquan und Shaolin-Boxen“ [1] von 1959 gibt es das Kapitel – „2. Die Entwicklung der十三势 Shi San Shi – 13 Gesten”. Darin erfolgt die Kategorisierung von „Großer Rahmen“ und „Kleiner Rahmen“. Diese versucht er ebenso auf das Yang-Klan Taijiquan anzuwenden und stellt ihnen sogar noch einen „Mittleren Rahmen“ – 中架 Zhongjia an die Seite, welchen er für den Chen-Klan so nicht einführt.

Abbildung der Rahmen nach Tang Hao

Nach Tang Hao’s Tod wurde am 26.01.1959 von seinem Redaktionsbüro in Beijing seine Schrift kompiliert und in der „Sport Zeitung“ veröffentlicht. Darin befindet sich diese blaue Abbildung. Die Schrift war bisher vermutlich unveröffentlicht. Ob und von wem Änderungen an der Originalfassung vorgenommen wurden kann nicht gesagt werden.


[1] Am 26. Januar 1959 von seinem Büro zusammengestellt und von der《體育報》- „Sport Zeitung“ (heute 《中國體育報》- „Chinas Sportzeitung“), 6 Tage nach Tang Hao’s Tod herausgegeben.


Eine fragliche Begründung

In der Schrift erscheint die Bezeichnung 陈沟老架十三势 Chen Gou Lao Jia Shi San Shi – „13 Gesten des – Alten Rahmen – aus dem Chen Dorf”. Sie bildet die Grundlage auf der das Taijiquan zusammengestellt wurde. Die Begründung lautet dass diese 13 Gesten mit denen von Ming–General 戚继光 Qi Jiguang[1] übereinstimmen. Eines sagt er in seinen Ausführungen nicht. Bei den 32 Gesten von Qi Jiguang handelt es sich um eine Abschrift von Chin Bo aus der Yuan-Dynastie[2]. Chin Bo hatte die erste Original-Zusammenstellung aus der Song-Dynastie von Kaiser Taizu[3] für seine Fassung verwendet. Zu Qi Jiguang’s Zeiten gab es also die 32 Gesten bereits seit 585 Jahren. Es handelt sich um Namenslisten mit Abbildungen und Kommentaren. Keiner kann wissen wie die Gesten in den Epochen real ausgeführt wurden und wie ihr praktischer Nutzen aussah. Es erklärt warum Tang Hao die Bezeichnung „Alten Rahmen“ ausgewählt hat. Dies hat aber wenig Relevanz, weil man auf zu viel theoretischen Annahmen zurückgreifen muss. Wenn er einen „Alter Rahmen“ – 老架 Laojia einführt dann müsste er zugeben nicht zu wissen was sich dahinter verbirgt. Dann würde der „Alte Rahmen“– 老架 Laojia nur für all das stehen können was vor der Zeit von Tang Hao als Taijiquan bezeichnet und praktiziert worden ist. Alles was zu Tang Hao’s Zeiten an praktischem Taijiquan existiert hat hätte er dann als „Rahmen der Gegenwart“ – 现代架 Xian Dai Jia oder als „Neuen Rahmen“ – 新架 Xinjia in seinen Kategorien einführen können. Für weitere Forschungen wäre das ein glücklicherer Start gewesen.


[1] aus seinem Militärhandbuch 記效新書-„Alt bewährtes neu Emittiert niedergeschrieben“ von 1561

[2] um 1372

[3] um ca. 976, 太祖长拳 – „Taizu Langfaust Boxen“


Über die 32 Gesten kann man allgemein folgendes sagen

  1. Eine choreographische Basis, kommentiert und durch Skizzen abgebildet
  2. ca. 976 in China erstmals im „Song-Kaiser Taizu Langfaust Boxen“ aufgeschrieben
  3. einige Jahr-Zehnte vor 976 entstanden
  4. nach langem Verschwinden um 1372 wiederaufgetaucht und durch Chin Bo Editiert
  5. nach Verschwinden um 1651 durch Qi Jiguang aufgegriffen und in Militärhandbuch „Alt bewährtes neu Emittiert niedergeschrieben“ überführt
  6. praktische Ausführung in den Epochen ist unbekannt (Choreografie allein sagt nichts)
  7. kämpferische Anwendung in den Epochen ist unbekannt
  8. Anforderungen an die Körper-Struktur z. Bsp. „Runder Schritt“ sind für die Epoche unbekannt

Über die Bücher von Gu Liu Xin wurden Tag Hao’s Thesen in China zum offiziellen Standpunkt. Dies setzte ab ca. 1960 ein. Mit den innerpolitischen Wirren und der Kulturrevolution kam zw. 1966 bis 1978 alles zum Erliegen. So blieb viel Zeit das sich diese Thesen verbreiten konnten. Irgendwann waren diese Begriffe einfach überall im Gebrauch. Möglicherweise entschieden sich die Autoren aus dem Chen-Klan dann langsam diese Begriffe zu verwenden. Damit konnte man Verdächtigungen entschärfen welche die staatlichen Standpunkte womöglich in Frage stellten. Für mich ist das eine denkbare Erklärung wie es zu künstlichen Fachausdrücken gekommen ist.

Jede Kampfkunst hat in ihrer Geschichte Veränderungen durchlaufen, wenn sie nicht Sinnlos dahin marodieren sollte. Jede Generation verfügt daher auch über eigene Fertigkeiten. Ziel war es immer sich zu behaupten oder das Überleben zu sichern. Es muss aber auch Brüche gegeben haben. Nicht immer konnte der Sohn an das Niveau des Vaters gelangen. Mit etwas Glück konnten ein Neffe oder der Enkel die Qualität wieder verbessern. Ebenso konnte eine langanhaltende Periode von Frieden und Sicherheit dazu führen die praktische Anwendbarkeit in der Realität zu verlieren. Es gibt viele Faktoren welche für die Motivation zur Pflege und Weiterentwicklung einer Kampfkunst eine Rolle gespielt haben. Diese Fakten sind für alle Kampfkünste zutreffend.


Resümee

Im Chen-Klan gibt es eine Besonderheit. In den zahlreichen Tradierungs-Linien wurde versucht Theorie mit einem Basis Prinzip in die Überlieferung einzubeziehen. Dieses Prinzip appellierte in seinem Kern an die Natürlichkeit im Menschen. Praktisch ließ sich dieser Anspruch umsetzen, weil individuell von Lehrer zu Schüler oder in kleinen Gruppen unterrichtet wurde. Es gab also schon immer Entwicklung und Veränderung bei der Überlieferung der Kampfkünste. Das musste so sein, weil die Menschen von ihrer Beschaffenheit nicht alle gleich sind.

Die beiden Rahmen werden heute im Chen-Klan aus innenpolitischen Gründen geführt. Sie werden von den verschiedenen Box-Linien Tradierungen benutzt. Öffentlich werden die zahlreichen Kampfkunst-Linien aus dem Klan nie ihre Meinungs-Unterschiede austragen. Sie wissen das ihre Reputation schnell schwinden kann, wenn Legenden und belegbare historische Tatsachen offengelegt würden. Zum Glück gibt es aber eine staatlich geförderte Taijiquan-Industrie von der man profitieren kann, wenn man kooperiert. Staatlichen Stellen kommt diese Einteilung gelegen. Falls jemand fragt warum das Chen Taijiquan schon Mal anders als wie gewohnt aussieht ist es einfach zu sagen dass es sich um den „Kleinen Rahmen“ handeln muss. Der „Große Rahmen“ ist weitverbreitet. Aus ihm wurde schließlich das staatliche Chen Stil Taijiquan abgeleitet was durch Gu Liu Xin in Umlauf gebracht wurde. Daher gibt es für den „Großen Rahmen“ eine große Intransparenz zu Überwinden. Es ist nicht automatisch klar ob es sich um staatliches, klassisch überliefertes oder Misch-Form Taijiquan handelt. Die Linien des „Kleinen Rahmen“ sind alle klassisch überliefertes Taijiquan. Allerdings gibt es hier viele Varianten. Diese Box-Linien sind sich sehr ähnlich. „Kleiner Rahmen“ erweckt dem Namen nach bei einem Leihen den Eindruck, dass es sich um etwas Unvollständiges oder Minderwertiges gegenüber dem „Großen Rahmen“ Handelt. Über Qualität und Vollständigkeit einer Box-Kunst sagen diese Bezeichnung jedoch nichts aus.


Weitere Quellen:

Als Empfehlung zu diesem Thema können die Ausführungen der Forschungs-Gesellschaft GCT e.V. nachgelesen werden. Ein interessanter Beitrag stammt aus dem Magazin „Shaolin Yu Taiji“, 9/2002, von Jarek Szymanski aus dem Chinesesischen ins Englische übersetzt © J.Szymanski 2002-2004. Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von © Annemarie Leippert 2009.




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